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Die Rede „Rhetorik in der Demokratie“ stammt aus der Feder von Roman Herzog.

Meine Damen und Herren,

ich gratuliere zunächst einmal zum Doppeljubiläum. Seit 500 Jahren gibt es Rhetorik in Tübingen und seit 30 Jahren das Seminar für „Allgemeine Rhetorik“. […]

Ich möchte zum Thema Rhetorik und Demokratie vielmehr in sehr pragmatischer und politischer Absicht sprechen. Dabei leitet mich das Interesse am weiteren Funktionieren unseres freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Denn Freiheit und Demokratie brauchen die freie Rede und damit die Beredsamkeit wie die Luft zum Atmen.

Wo keine selbstverständlichen Gewissheiten vorliegen, wo also Entscheidungen zu treffen sind, die der Zustimmung bedürfen, wo nicht Macht allein entscheidet oder formale Logik Schlüsse erzwingt, da ist der Ort der Rhetorik. Wenn das stimmt, dann ist der vornehmste Ort der Rhetorik tatsächlich die Demokratie. Es ist deshalb kein Zufall, dass sie in der athenischen Demokratie ihre erste Blüte erlebt hat. Das entscheidungsoffene Wesen der Demokratie und der Widerstreit der Meinungen in ihr bewirken, dass Demokratie und Beredsamkeit nicht nur historisch gleichen Ursprungs sind, sondern dass sie notwendigerweise aufeinander angewiesen bleiben.

Das Thema „Rhetorik in der Demokratie“ interessiert mich deshalb nicht nur persönlich, es interessiert mich auch qua Amt. Wenn der Bundespräsident, wie ich mich jetzt einmal in der dritten Person nennen will, zu diesem Thema spricht, dann spricht er in gewisser Weise auch über sich selbst. […]

Demokratie und Rhetorik sind ganz allgemein aufeinander angewiesen. Beredsamkeit ohne Demokratie ist entweder - von unten gesehen - mit Gefängnis- oder gar Lebensgefahr verbunden oder sie erschöpft sich - von oben gesehen - in Lobhudelei, Vernebelung und Propaganda. Gewiss kann es auch in anderen Staatsformen faire Unterrichtung und offenes Werben um die Zustimmung der Betroffenen geben, aber Demokratie ohne Rede und Gegenrede - und das bedeutet ja Demokratie ohne Rhetorik - wäre eine reine Gespensterveranstaltung, in der allein noch nach Logos, Lobbymacht und dem Image von Personen entschieden würde.

Das Amt des Bundespräsidenten zeichnet sich dementsprechend nicht durch seine besondere Nähe zum Instrument der Rede aus, sondern allenfalls dadurch, dass der Mangel seiner Entscheidungsbefugnisse die Rede bei ihm überproportional in den Vordergrund treten lässt, vor allem aber dadurch, was mit diesem Instrument angestrebt und erreicht werden muss.

Auf die Rede sind - wie könnte es anders sein - auch Regierung und Opposition angewiesen; wie sollten sie sonst die Wähler von der Richtigkeit ihrer politischen Positionen überzeugen? Die Eigenart der politischen Auseinandersetzung bringt es aber fast unausweichlich mit sich, dass sie sich dabei auf solche Fragen konzentrieren, die im jeweiligen Augenblick zwischen ihnen umstritten sind und die infolgedessen auch gerade „aktuell“ sind. Andere interessieren in der Regel auch die Medien nicht. Der Bürger zieht daraus meist den Schluss, „die da oben“ seien „immer nur zerstritten“ und sie sähen außerdem über den Tellerrand der nächsten Wahl nicht hinaus.

Ganz anders der Bundespräsident: Er hat solche Fragen zu „thematisieren“, die im Moment nicht Gegenstand der allgemeinen Debatte sind (und die infolgedessen auch den Massenmedien als nebensächlich erscheinen), und er hat von Zeit zu Zeit ins Bewusstsein zu rufen, dass es zwischen den politischen Lagern auch breite Zonen der Übereinstimmung gibt - er hat also, wie man so schön sagt, „das Gemeinsame zu betonen“. […]

Ich möchte auf ein mir ebenfalls sehr wichtiges Thema zu sprechen kommen, das mit der Rolle der Rhetorik in der Demokratie zusammenhängt. Die offene Gesellschaft, für die ich immer wieder plädiere, ist auf Transparenz angewiesen, vor allem auf die Transparenz der unterschiedlichen Wissensbereiche. Es ist nicht rückgängig zu machen, dass sich unser Wissen in immer mehr Sachbereiche ausdifferenziert. Es ist aber für eine offene und demokratische Gesellschaft höchst gefährlich, wenn sich die unterschiedlichen Disziplinen so sehr in ihren eigenen Sprachspielen verstricken, dass sie schon deshalb nicht mehr miteinander diskutieren können, weil sie sich nicht mehr verstehen. In den komplexen Entscheidungen, die wir immer wieder in unserem Gemeinwesen treffen müssen, ist es aber nicht möglich, auf Zusammenarbeit der Disziplinen zu verzichten. Viele Blockaden in unseren augenblicklichen Debatten sind im ungenügenden gegenseitigen Verstehen begründet.

Aber ich will noch einen Schritt weitergehen. In einer offenen Gesellschaft müssen sich nicht nur die jeweiligen Experten verstehen. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, die Probleme so darzustellen, dass auch eine interessierte Öffentlichkeit darüber sachgerecht mitreden und entscheiden kann. Der Kampf gegen Expertokratie beginnt mit dem Gewinn der rhetorischen Kompetenz, mit sachgerechter Beredsamkeit.

Damit ist nicht zuerst die Fähigkeit zum Überzeugen anderer gemeint, sondern die Fähigkeit, einen Sachverhalt oder ein Problem so darzustellen, dass sie für nicht Eingeweihte überhaupt verständlich werden. […]

Dabei sind es zunehmend zentrale Bereiche in Wissenschaft und Politik, die, so schwierig und komplex sie sind, einer möglichst breiten Öffentlichkeit verständlich gemacht werden müssen. Ich nenne nur zwei Beispiele, die alle angehen, aber, wie ich vermute, nur von den wenigsten verstanden werden. Alles, was mit Gentechnologie zusammenhängt, wird unser Leben revolutionieren können. Von der Ernährung über die Heilung von Krankheiten bis hin zur Erzeugung von Leben oder gar neuen Lebensformen sind existentielle Bereiche unseres persönlichen Lebens betroffen. Hier fehlt sachgemäße und umfassende Aufklärung. Stattdessen haben wir auf der einen Seite einen schablonierten Angst- oder Empörungs-Diskurs und auf der anderen Seite einen ebenso schablonierten Innovations-Diskurs. Beide, so hat man den deprimierenden Eindruck, wissen nicht, wovon sie reden. Das liegt - und deswegen gehört das zu unserem Thema - u.a. daran, dass die Wissenschaftler oft überhaupt nicht öffentlich reden oder doch keine Sprache haben, die verstanden wird, und dass die, die sich äußern, häufig keine Ahnung von der Sache haben. Für das demokratische Gemeinwesen ist das gefährlich, weil die Gesellschaft aus Sprachlosigkeit um die Möglichkeit gebracht wird, eine sachgerechte Debatte zu führen und sachgerecht zu entscheiden.

Ebenso verhält es sich oft im politischen Bereich. Ich möchte zum Beispiel gern wissen, wer von Ihnen eine präzise und gründliche Argumentation für oder gegen den Euro kennt. […] …

Es ist heute nicht mehr möglich, über politische Beredsamkeit zu sprechen, ohne zugleich darüber zu reflektieren, dass wir in einer Mediengesellschaft leben. Für die politische Rede bedeutet das zunächst, dass nichts von ihr beim Volk ankommt, wenn sie nicht durch die Medien - und hier vor allem durch das Fernsehen - vermittelt wird. Das ist zwar inzwischen selbstverständlich, hat aber die politische Beredsamkeit auf bedeutsame Weise verändert. Das erste Gesetz des Fernsehens heißt: kurz und schnell. So wird zum Beispiel in der Berichterstattung aus einer halbstündigen Rede ein Ausschnitt von einer halben Minute gezeigt. Während seriöser Journalismus versucht, einen Satz zu finden, der in etwa die Hauptthese der Rede zusammenfasst, wird das Infotainment geneigt sein, möglichst die Stelle zu finden, an der der Redner den politischen Gegner besonders polemisch abfertigt oder auf andere Weise für Aufregung sorgt. So wird in der Öffentlichkeit der Eindruck immer mehr verstärkt, dass der so genannte „Schlagabtausch“ der einzig verbliebene Sinn der politischen Debatte sei. Die Politiker selbst sind daran sicher nicht schuldlos, aber unter den Bedingungen des Fernsehens und seiner Gesetze ist es selbst dem seriösesten Politiker nicht möglich, Kosten und Nutzen einer Steuerreform zu erläutern, wenn dazu einminütige „sound-bites“ ausreichen müssen. Das geht einfach nicht.

In der Kürze liegt aber nicht immer die Würze. In der Eile geht verloren, was für die Beredsamkeit in der Demokratie das wichtigste ist: das ausführliche, verständliche Argument und die Transparenz einer politischen Position. Die Verführung zur mediengemäßen Rhetorik lässt nicht nur die Sprache arm und platt werden. Sie verändert die gesellschaftliche Kommunikation insgesamt, indem sie zum Kurzmonolog verleitet und so zur Verhärtung von „einsilbigen“ Positionen. […]

Es ist Ihnen, wie ich hoffe, schon deutlich geworden, dass ich in meinem Begriff von Rhetorik und Beredsamkeit nicht in erster Linie die monologische Rede vor Augen habe, sondern den Dialog in Rede und Gegenrede. Er ist die einzig angemessene Antwort auf die unübersichtlichen und unentschiedenen Fragen der Zeit. Der Dialog ist das Gegenteil des „Machtwortes“, erst recht das Gegenteil des bewaffneten Kampfes, er ist der friedliche Wettstreit der Überzeugungen. Dieser Dialog braucht nicht nur Menschen, die von ihrer Sache für sich selbst überzeugt sind, sondern solche, die eine überzeugende und zustimmungsfähige Sprache sprechen und an die friedensstiftende Macht des Wortes glauben.

Klarheit und Wahrheit auf allen Seiten! Und dann lasst uns streiten. Aber nur so!

Auszug der Rede "Rhetorik in der Demokratie" (im Unterschied zu "Propaganda im Nationalsozialismus") von Bundespräsident Roman Herzog an der Universität Tübingen am 8. Juli 1997.

Anmerkung: Roman Herzog (1934 - 2017) war ein deutscher Jurist und Politiker (CDU). Er war von 1994 bis 1999 der siebte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
Die "Eberhard Karls Universität Tübingen" (Baden-Württemberg) wurde 1477 auf Betreiben des Grafen Eberhard im Bart gegründet und zählt zu den ältesten Universitäten in Europa.