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Der Essay „Erkenntnis und Irrtum“ stammt aus der Feder von Ernst Mach.

So strebt also auch die Gesamtheit der Spezialforscher ersichtlich nach einer Weltorientierung durch Zusammenschluß der Spezialgebiete. Bei der Unvollkommenheit des Erreichbaren führt die-ses Streben zu offenen oder mehr oder minder verdeckten Anleihen beim philosophischen Denken. Das Endziel aller Forschung ist also dasselbe. Es zeigt sich dies auch darin, daß die größten Philosophen, wie Plato, Aristoteles, Descartes, Leibniz u. a. zugleich auch der Spezialforschung neue Wege eröffnet und anderseits Forscher wie Galilei, Newton und Darwin u. a., ohne Philosophen zu heißen, doch das philosophische Denken mächtig gefördert haben.

Der Philosoph entnimmt wieder der Spezialforschung solidere Grundlagen, als sie das vulgäre Den-ken ihm zu bieten vermag. Die Naturwissenschaft ist ihm einerseits ein Beispiel eines vorsichtigen, festen und erfolgreichen wissenschaftlichen Baues, während er anderseits aus der allzu großen Einseitigkeit des Naturforschers nützliche Lehren zieht. In der Tat hat auch jeder Philosoph seine Pri-vat-Naturwissenschaft und jeder Naturforscher seine Privat-Philosophie. Nur sind diese Privat-Wissenschaften meist etwas rückständiger Art. [S. 15 f.]

Die Denk- und Arbeitsweise des Naturforschers ist nämlich von jener des Philosophen sehr ver-schieden. Da er nicht in der glücklichen Lage ist, unerschütterliche Prinzipien zu besitzen, hat er sich gewöhnt, auch seine sichersten, bestbegründeten Ansichten und Grundsätze als provisorisch und durch neue Erfahrungen modifizierbar zu betrachten. In der Tat sind die größten Fortschritte und Entdeckungen nur durch dieses Verhalten ermöglicht worden. [S. 30]

Wir wollen als aufmerksame Spaziergänger, das Gebiet der Naturforschung durchstreifend, das Verhalten des Naturforschers in seinen einzelnen Zügen beobachten. Wir fragen: Durch welche Mittel ist die Naturerkenntnis bisher tatsächlich gewachsen, und wie hat sie Aussicht, noch ferner-hin zu gedeihen? Das Verhalten des Forschers hat sich in der praktischen Tätigkeit, im volkstümlichen Denken instinktiv entwickelt, und ist von diesem nur auf das wissenschaftliche Gebiet übertragen und zuletzt zu bewusster Methodik entwickelt worden. Wir werden zu unserer Befriedigung nicht nötig haben, über das empirisch Gegebene hinauszugehen. Wenn wir die Züge in dem Ver-halten des Forschers auf tatsächlich beobachtbare Züge unseres physischen und psychischen Lebens zurückführen können, welche sich auch im praktischen Leben, im Handeln und Denken der Völker wiederfinden, wenn wir nachweisen können, daß dieses Verhalten wirklich praktische und intellektuelle Vorteile herbeiführt, so wird uns dies genügen. Eine allgemeine Betrachtung unseres physischen und psychischen Lebens wird hierfür die natürliche Grundlage bilden. [S. 35]

Wollte man kurz und allgemein zutreffend das Streben des Naturforschers, seine Tätigkeit in jedem einzelnen Fall, das Ziel, dessen Erreichung ihn befriedigt, bezeichnen, so müßte man sagen: Er will seine Gedanken mit den Tatsachen und erstere untereinander in möglichst gute Übereinstimmung bringen. Die »vollständige und einfachste Beschreibung« (Kirchhoff 1874), »die ökonomische Darstellung des Tatsächlichen« (Mach 1872), »Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein und Übereinstimmung der Denkprozesse unter sich« (Grassmann 1844) geben mit geringen Variationen demselben Gedanken Ausdruck. Anpassung der Gedanken an die Tatsachen wird in der Mitteilung an andere zur Beschreibung, zur ökonomischen Darstellung des Tatsächlichen bei vollständiger einfachster Beschreibung. Jede vermeidliche Inkongruenz, jede Unvollständigkeit, jede logische Differenz oder Abundanz der beschreibenden Gedanken bedeutet einen Verlust, ist unökonomisch.

So allgemein und wenig bestimmt diese Charakteristik der Forschung auch erscheinen mag, dürfte sie mehr zum Verständnis der Tätigkeit des Forschers beitragen als speziellere, dafür aber einseitigere Beschreibungen dieser Tätigkeit.

Quelle: Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum - Erstdruck: Leipzig (Johann Ambrosius Barth) 1905 / Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken.

Anmerkung: Ernst Mach (1838 - 1916) war ein in Mähren geborener österreichischer Physiker und Philosoph, der zur Physik der Stoßwellen forschte. Ihm zu Ehren wurde das Verhältnis der eigenen Geschwindigkeit zu der des Schalls als "Mach-Zahl" bezeichnet. Als Wissenschaftsphilosoph hatte er großen Einfluss auf den logischen Positivismus und den amerikanischen Pragmatismus. Mit seiner Kritik an Newtons Raum- und Zeittheorie war er ein Vorläufer der Relativitätstheorie von Albert Einstein.