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Das Gedicht „Der Tanzbär“ stammt aus der Feder von Gotthold Ephraim Lessing.

Ein Tanzbär war der Kett' entrissen,
Kam wieder in den Wald zurück,
Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück
Auf den gewohnten Hinterfüßen.
»Seht«, schrie er, »das ist Kunst; das lernt man in der Welt.
Tut mir es nach, wenn's euch gefällt,
Und wenn ihr könnt!« »Geh«, brummt ein alter Bär,
»Dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
Sie sei so rar sie sei!
Zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei.«

Ein großer Hofmann sein,
Ein Mann, dem Schmeichelei und List
Statt Witz und Tugend ist;
Der durch Kabalen steigt, des Fürsten Gunst erstiehlt,
Mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt,
Ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein,
Schließt das Lob oder Tadel ein?

Anmerkung: Kabale steht veraltet für Intrige

Analyse

Das als Fabel verpackte Gedicht „Der Tanzbär“ (1759; Epoche der Aufklärung) besteht aus 2 Strophen mit 10 bzw. 7 Versen. Es gibt nur wenig Reime, und ein durchgängiges Reimschema lässt sich nicht ausmachen. Das Versmaß ist ein Jambus.

Eine doppeldeutige, rhetorische Frage beendet das Gedicht in den letzten beiden Versen. Dem Hofmann / Tanzbären ist das Lob der anderen wichtig. Zugleich umfasst aber der Tadel, den er alte Bär in der ersten Strophe vorbringt, sich nicht von eitlen, weltläufigen "Kunststücken" blenden zu lassen.

Inhalt / Zusammenfassung

In der ersten Strophe kommt ein Bär frei von seinen Ketten und wandert zurück in den Wald. Dort gibt er mit seinen "Kunststücken" gegenüber den anderen Bären an. Doch ein alter Bär lässt sich nicht beeindrucken und bemerkt, der Neuankömmling sei immer noch der Sklaverei verhaftet.

Die zweiten Strophe hat keinen direkten Zusammenhang zur ersten Strophe der Fabel. Der Autor beschreibt einen "Hofmann", der großes Ansehen genoss, diese aber nur mit Schmeichelei und List erschlichen hatte.

Hintergrund

Bei dem Text handelt es sich um eine in Versform erzählte Fabel (Verserzählung, Lehrgedicht). Im Kontrast zu vielen anderen Fabeln, die nach dem Muster der Fabeln von Aesops aufgebaut sind, treten in dieser Fabel nur Bären und keine weitere Tierart als Antagonist auf.

Der Bär, der offenbar lange Zeit in Ketten gelegt als Tanzbär aufgetreten ist, ist seinem Herrn offensichtlich ausgerissen und hat die Ketten hinter sich gelassen. Übergangslos und ohne sprachliche Hinweise auf den folgenden Vergleich in der zweiten Strophe zieht Lessing mit dem für die Aufklärung typischen Selbstbewusstsein des bürgerlichen Dichters und Gelehrten nun einen Vergleich zwischen einem "Hofmann", der zur Zeit des Barock noch in hohem Ansehen stand, mit dem Tanzbären. Seine belehrende Absicht, sein Bestreben, nicht missverstanden zu werden, lassen den Dichter auf raffinierte, elegante Satire verzichten.