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Die Kurzgeschichte (Parabel) „Der Schriftsteller“ stammt aus der Feder von Bertolt Brecht.

Ein Schriftsteller, gefragt, warum er in seinen Arbeiten immer nur von Elend rede und immer nur den zerstörenden Einfluß des Elends auf die Menschen untersuche und darstelle und warum er niemals hoffnungsvollere und erfreulichere Bilder des menschlichen Lebens entwürfe, erzählte folgende Geschichte:

Zu einem Mann, der sich schon längere Zeit unpäßlich fühlte und nun mit allen Anzeichen einer schweren Erkrankung darniederlag, wurde ein Arzt gerufen, dem es in kürzester Zeit gelang, den Kranken und seine betrübten Angehörigen zu beruhigen und mit Hoffnung auf baldige Genesung zu erfüllen. Er nannte den Namen der Krankheit und bezeichnete den Fall als einen verhältnismäßig einfachen und vorübergehenden. Er gab genaue Anweisungen und verschrieb verschiedene Medikamente und scheute nicht die Mühe, selbst mehrere Male am Tag nach dem Kranken zu sehen, und wurde so der willkommenste Gast im Hause des Kranken.

Die Krankheit des Mannes aber nahm zu, und er konnte bald nicht mehr einen Finger heben, so hatte das Fieber ihn geschwächt. Der Arzt aber redete vom Sommer, von Reisen, von der Zeit, wo der Kranke, wieder gesund, ein gutes Leben führen wird.

In diesen Tagen kam ein alter Freund der Familie, der selber ein berühmter Arzt war, durch die Stadt, in der der Mann lebte. Als er den Kranken sah, erschrak er, denn er erkannte, daß der Mann, dessen Freund er war, nicht am Leben bleiben würde. Er untersuchte den Kranken lange und gründlich und verheimlichte den Angehörigen nicht seine Befürchtungen, obwohl er, wie er sagte, noch nicht imstande sei, die genaue Ursache der Erkrankung anzugeben.

Als nun der Mann wirklich nach zwei weiteren Tagen starb, fragte die verzweifelte Mutter den Freund, ob ihr Sohn nicht hätte gerettet werden können, da sie doch gehört hätte, daß gerade diese Krankheit, die ihr der Arzt genannt habe, selten mit dem Tode endige.

Der Freund überlegte eine Weile und sagte dann: „Nein, er hätte nicht gerettet werden können.“
Zu dem Bruder des Toten aber, ihrem jüngsten Sohn, sagte er draußen: „Hätte man Ihren Bruder gleich einem Chirurgen übergeben, lebte er heute noch. Das ist meine Ansicht, und Ihnen sage ich sie. Ihre Mutter ist alt und braucht die Wahrheit nicht mehr, sondern Trost, Sie aber sind jung und brauchen die Wahrheit.“
„Und warum hat ihn der Arzt, den wir damals gerufen haben, nicht gleich einem Chirurgen übergeben?“ fragte der junge Mann. „Warum hat er immer nur von Besserung geredet und von der Gesundheit meines Bruders? Und wozu die teuren Medikamente und die genauen Anweisungen, wenn sie nichts nützen?“

„Nicht immer müssen teure Medikamente und genaue Anweisungen nützen, junger Freund, aber was man von einem Arzt verlangen soll, ist, daß er die richtige Ursache der Krankheit feststellt. Um jemand gesund zu machen, braucht man zuerst die richtige Diagnose. Und um die richtige Diagnose stellen zu können, braucht man nicht nur ein gründliches medizinisches Wissen, sondern auch wirkliches Interesse an der Heilung der Krankheit. Es genügt nicht, daß einer Arzt ist, er muß auch helfen können. Jener Arzt redete von Besserung, als er noch nicht die wahre Ursache der Erkrankung festgestellt hatte. Ich aber rede so lange von Krankheit und nur von Krankheit, bis ich die genaue Ursache der Erkrankung kenne und die genauen Mittel weiß, um sie wirksam zu bekämpfen, und die ersten Anzeichen der Besserung sich zeigen. Dann erst rede auch ich vielleicht von Heilung.“

„So oder so ähnlich war es“, sagte der Schriftsteller und brach die Geschichte ab. „Aber du bist doch kein Arzt“, fragte man ihn erstaunt nach einem kurzen höflichen Schweigen.

„Nein. Aber Schriftsteller“, erwiderte er.

Quelle: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Bd. 8. Frankfurt: Suhrkamp 1967, 90 ff.