Der Vorleser (1995) ist ein dreiteiliger Roman von Bernhard Schlink.
Handlung
Anfangs dreht sich die Erzählung um die ungleiche erotische Beziehung des 15-jährigen Ich-Erzählers Michael zu der 21 Jahre älteren Hanna. Dann konzentriert sich die Darstellung auf ethische Fragen und den Umgang mit den Tätern des Holocaust in der BRD der 1960er Jahre. Die Charaktere im Einzelnen:
- Michael Berg, ein deutscher Mann, der zunächst als 15-jähriger Junge porträtiert wird und in späteren Abschnitten seines Lebens wieder auftaucht; vor allem, als er ein Forscher der Rechtsgeschichte ist, geschieden und mit einer Tochter, Julia. Wie viele seiner Generation kämpft er mit der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte seines Landes.
- Hanna Schmitz, eine ehemalige Wachfrau in Auschwitz. Sie ist 36, Analphabetin und arbeitet als Straßenbahnschaffnerin in Neustadt, als sie den 15-jährigen Michael kennenlernt. Sie nimmt eine dominante Position in ihrer Beziehung ein, und sie liebt es, wenn er ihr vorliest.
- Sophie, eine Schulfreundin Michaels, in die er sich wohl verknallt hat. Sie ist fast die erste Person, der er von Hanna erzählt. Als er seine Freundschaft mit ihr beginnt, fängt er an, Hanna zu "verraten", indem er ihre Beziehung zu ihm verleugnet und seine Zeit mit Hanna abkürzt, um mit Sophie und seinen anderen Freunden zusammen zu sein.
- Michaels Vater, ein Philosophieprofessor, der sich auf Kant und Hegel spezialisiert hat. Während der Nazizeit verlor er seinen Job, weil er eine Vorlesung über Spinoza gehalten hatte, und musste sich und seine Familie mit dem Schreiben von Wanderführern über Wasser halten. Er ist sehr förmlich und verlangt von seinen Kindern, dass sie Termine vereinbaren, um ihn zu sehen. Er ist emotional steif und es fällt ihm nicht leicht, seine Gefühle Michael oder seinen drei Geschwistern gegenüber auszudrücken, was die Schwierigkeiten, die Hanna Michael bereitet, noch verschlimmert. Zu dem Zeitpunkt, an dem Michael die Geschichte erzählt, ist sein Vater bereits tot.
- Michaels Mutter, die kurz zu sehen ist. Michael hat schöne Erinnerungen daran, wie sie ihn als Kind verwöhnt hat, die durch die Beziehung zu Hanna wieder geweckt werden. Ein Psychoanalytiker rät ihm, sich mehr mit der Wirkung seiner Mutter auf ihn zu beschäftigen, da sie in seiner Lebenserzählung kaum vorkommt.
- Die Tochter einer Jüdin, die das Buch über den Todesmarsch von Auschwitz geschrieben hat. Sie lebt in New York City, als Michael sie gegen Ende der Geschichte besucht, und leidet noch immer unter dem Verlust ihrer eigenen Familie.
Fazit
Ein faszinierender und gleichzeitig beklemmender Roman. Keine ganz leichte Kost, zumal die Schuldfrage des öfteren im Raum steht. Schlinks Stil ist spärlich; er schreibt mit einer eisigen Klarheit, die gleichzeitig enthüllt und verbirgt.
In der wissenschaftlichen Kritik steht die im Roman aufgeworfene komplexe Schuldproblematik im Fokus der Analyse. Mit Bezug auf den Essay „Die Gegenwart der Vergangenheit“, in dem Schlink das Fortdauern der nationalsozialistischen Epoche und ihren immensen Einfluss auf das Bewusstsein seiner Generation behauptet, begreift die Literaturwissenschaftlerin Michaela Kopp-Marx den Vorleser als literarische Auseinandersetzung mit der umstrittenen Kollektivschuld-These.
Das Buch wurde in über 50 Sprachen übersetzt. In den USA erschien es 1997 unter dem Titel "The Reader" und wurde zu einem Bestseller.
Die Verfilmung unter der Regie von Stephen Daldry wurde im Dezember 2008 veröffentlicht. Kate Winslet spielte Hanna, David Kross dem jungen Michael und Ralph Fiennes als dem älteren Mann. Bruno Ganz und Lena Olin spielten Nebenrollen. Der Film wurde für fünf Oscars nominiert, darunter für den besten Film. Winslet gewann den Oscar als Hauptdarstellerin.
Nicht zu verwechseln ist das Werk mit der französischen Erotik-Komödie "Die Vorleserin" (La lectrice, 1988) mit Miou-Miou in der weiblichen Hauptrolle.
Autor
Bernhard Schlink (* 1944 in Großdornberg, heute Bielefeld) ist ein deutscher Jurist, ehemaliger Hochschullehrer und Schriftsteller.